Leerstelle Georg Lukács

Wie in Ungarn vor der Wahl der jüdische Bolschewismus in Gestalt von György Lukács entsorgt wird

Günter Platzdasch
5 min readMar 28, 2018
“WWS”-Bericht in F.A.Z. vom 20. Oktober 1986

„Als letzten Denker des Marxismus in seiner heroischen Epoche“ würdigte Peter Demetz Georg Lukács zum 100. Geburtstag in einem großen, dreispaltigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 12. April 1985. Als im Folgejahr in Budapest ein Denkmal für Georg Lukács errichtet wurde, war dies der F.A.Z. einen Zweispalter mit Foto, verfaßt von Wolfgang Sandner, wert.

Schon lange ist es ruhig geworden um den Denker, der einst mächtig polarisierte — die einen sahen in ihm den Dissidenten, den ja schon Lenin kritisiert hatte und der sich 1956 nach der Niederschlagung des Budapester Aufstands in die jugoslawische Botschaft geflüchtet hatte; die anderen sahen in ihm einen Stalinisten und terrible simplificateur, der er ja auch war, getreu dem bon mot, sein Werk „Die Zerstörung der Vernunft“, die Abrechnung mit der „bürgerlichen“ Philosophie, dokumentiere nur die Zerstörung von Lukács’ Vernunft. Immerhin ehrte ihn die Stadt Frankfurt am Main 1970 als „bedeutenden marxistischen Philosophen, Literaturwissenschaftler und Humanisten“ mit dem Goethepreis.

1970: Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main

Auch Orhan Pamuk, 2005 in der Frankfurter Paulskirche mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet (und 2006 mit dem Nobelpreis für Literatur) verbindet etwas mit dieser Stätte, die er noch im April letzten Jahres besucht hat — dazu gibt es die wunderbare Bildersammlung „Orhan Pamukkal a Lukács Archívum“ der Fotografin Gabriella Csoszó bei flickr.

Orhan Pamuk an Lukács’ Schreibtisch (Foto Gabriella Csoszó)

Ich bin gespannt, wie Frankfurt und das heutige deutsche Geistesleben, das sich erfreulich sensibel zeigte, als der Vorsitzende einer deutschen Rechtspartei eine türkischstämmig-deutsche Politikerin „in Anatolien entsorgen“ wollte, auf die gerade stattfindende Entsorgung von Georg Lukács in Ungarn reagieren.

Als letztes Jahr in Budapest der Antrag der rechtsradikalen Jobbik-Partei, das Lukács-Denkmal im Szent-István-Park zu stürzen, eine Mehrheit fand und Ende März 2017 auch umgesetzt wurde, war das deutsche Echo kaum hörbar.

Video einer Protestveranstaltung u.a. mit Ágnes Heller im April 2017 → hier

Wo einst das Lukács-Denkmal stand (Foto: Globetrotter19/Wikipedia/CC BY-SA 3.0), findet man heute nur noch Sockelreste (Foto Günter Platzdasch)

Auch zur Ankündigung der ungarischen Akademie der Wissenschaften, das Lukács-Archiv aus dessen weltberühmter Wohnung am Donaukai zu entfernen, gab es nur müde Reaktionen (Internetpetition). Als der Abtransport nicht, wie angekündigt, Mitte Januar 2018 begann, hoffte mancher, daß die Suppe nicht so heiß gegessen, wie gekocht wird. Aber jetzt wurde plötzlich noch vor den ungarischen Wahlen am 8. April letzte Woche, am 20. März viertel vor zehn Uhr, ohne Absprache mit der Archivleiterin, doch noch die Wohnung von Lukács, auf der Rechten die Inkarnation des verhaßten jüdischen Bolschewismus, geräumt.

Räumung des Archivs Ende März 2018 (Fotos Gabriella Csoszó)

Der Schriftsteller Rolf Schneider beschrieb diesen Ort, Budapest/Belgrád rakpart 2, unter der Überschrift „Der marxistische Geisterfürst“ in der Süddeutschen Zeitung vom 18./19. Oktober 1986: „Bei meinem nächsten Besuch in der Stadt, 1962, besuchte ich Georg Lukács. Sein Domizil ist oft beschrieben worden: in einem neueren Mietshaus, unterm Dach, direkt am rechten Donauufer, mit Blick auf die Häuser und Hügel von Buda. Die Räume waren vollgestopft mit Büchern und Zigarettenqualm. Dort herrschte er, ein marxistischer Geisterfürst, gnomig, weißhaarige, mit großen Augen, großer Nase und großer Unterlippe. Ich sei der erste Besucher seit 1956 aus meinem Lande DDR, sagte er mir.“

Auch das berühmte SPIEGEL-Gespräch (Heft 17/1970) huldigte die Aura des Orts: Da thronte der Geistesfürst auf seinem Sofa, zu seiner Seite rechts und links auf Stühlen die beiden Spiegel-Redakteure und ihr Stenograph.

DER SPIEGEL Nr. 17/1970, S. 153 ff.

Das nachhaltigste Dokument gemeinsamen Denkens in deutscher Sprache in der fünften Etage des Hauses am Belgrad-Kai ist wohl das Rowohlt-Paperback von 1967 „Gespräche mit Georg Lukacs / Hans Heinz Holz, Leo Kofler, Wolfgang Abendroth“, herausgegeben von Theo Pinkus.

Gespräche am Belgrad-Kai: Theo Pinkus, Wolfgang Abendroth, Hans Heinz Holz und Wohnungsbesitzer Georg Lukács

Nach Lukács’ Tod wurde seine Wohnung zum Archiv. Das Winterheft 2014 der Zeitschrift für Ideengeschichte bot Kostproben dessen, was da aufzutreiben war. Und enthält hochaktuelle Einleitungssätze: „Wer redet noch von Georg Lukács? Warum ist es so still geworden um ihn, der jahrzehntelang die Gemüter erhitzte wie nur wenige? Liegt es daran, dass sein Bild schon zu Lebzeiten zwischen den Extremen schwankte, verwirrt von «der Parteien Gunst und Haß»? Die einen verehrten ihn als unbestechlichen Gesellschaftskritiker und Erneuerer des Marxismus, die anderen sahen in ihm einen unbelehrbaren Stalinisten, den Prototyp eines korrupten Intellektuellen. Seine Interpretations-Methoden wurden weltweit kopiert, doch Generationen von Schriftstellern und Lesern in der DDR litten unter seinen Bannsprüchen.“

Jürgen Habermas, 2001 ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, in Lukács’ Wohnung (Foto Székely Mari, Lukács Archívum)

Von den prominenten Gästen in diesem Budapester Laboratorium des Denkens leben und finden Beachtung die beiden Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Jürgen Habermas und Orhan Pamuk. Vielleicht hülfe es, erhöben sie als europäische Intellektuelle vis-à-vis der aktuellen Vorgänge in Budapest ihre Stimmen.

--

--

Günter Platzdasch
Günter Platzdasch

Responses (1)