Austromarxismus: Das Rote Wien

Kommunaler wohnbau im „Roten Wien“

Von Anne-Marie Fabian (in: Der Gewerkschafter 2/78)

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Es gab einmal eine theoretische Monatszeitschrift der IG Metall, mit der ich — auf Veranlassung von Wolfgang Abendroth — beliefert wurde. Bei Recherchen zum wieder hochaktuellen Thema Wohnungsbau in Wien entdeckte ich dort, in Der Gewerkschafter, einen Artikel von 1978, den ich dem Vergessen entreißen möchte. (Die Zeitschrift erschien damals in gemäßigter Kleinschreibung.)

Durch die nazizeit sind viele errungenschaften der arbeiterbewegung in den zwanziger jahren aus dem bewußtsein der menschen verschwunden. Das gilt auch für den kommunalen wohnungsbau in Wien von 1918 bis 1934.

Die voraussetzungen des „Roten Wien“ — mit dem man heute vielleicht das Rote Bologna vergleichen könnte — waren dreierlei: die überkommene wohnstruktur aus dem kaiserreich, die katastrophale wohnungsnot bei kriegsende und der wille der stadtverwaltung, ein sozialistisches experiment zu wagen.

Eine republik für jedermann

1918 — das war die zeit der größten wohnungsnot in Österreich und vor allem im Wien, das durch das auseinanderbrechen der donaumonarchie seines bisherigen hinterlandes beraubt wurde. (Die einwohnerzahl Österreich-Ungarns betrug 56 millionen, die der republik Österreich 6 millionen.) Die menschen mußten aber nicht nur behaust werden, sondern sie sollten nach dem willen der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) die republik als die ihre begreifen können.

Die erste regierung des neuen staates war eine konservativ-sozialistische koalition -alle späteren regierungen waren konservativ. Sie verabschiedete ein bundesmietengesetz, nach dem die mieten auf dem stand von 1914 eingefroren wurden. Das ermöglichte der sozialistischen stadtregierung von Wien, den für den geplanten wohnungsbau benötigten boden preiswert zu erwerben.

Wichtige gesetzgeberische maßnahmen auf der ebene des landes folgten. (Die doppeleigenschaft Wiens als stadt und land war auch eine errungenschaft der koalitionsregierung.) So die mietzinsabgabe, eine progressive einkommensteuer, bei der nicht die armen für die armen bezahlten, sondern jeder entsprechend seinem mietpreis herangezogen wurde. „Steuersadismus“, „steuerbolschewismus“ usw. tönte es aus der bürgerlichen presse.

Hugo Breitner, sozialistischer finanzstadtrat und vorher bankier, finanzierte mit dieser abgabe -und ausgleichsabgaben des bundes -die ungeheure wohnbauleistung von 63 000 wohnungen bis 1934 ohne kreditaufnahme, nur aus steuermitteln, obwohl keine miete, sondern nur eine abgabe für die erhaltung der anlagen erhoben wurde. Der anteil des mietzinses am einkommen der arbeiter sank dadurch auf unter 4 prozent. (Das wirkte sich auf die lohnhöhe aus und förderte den export — was beabsichtigt war.)

Vorbilder aus dem barock

In den ersten fünf jahren bis 1923 wurde experimentiert. Man wollte nicht in siedlungen am stadtrand ausweichen, man wollte in Wien bauen. Es sollten komplexe entstehen, die schon von der anlage her sozialistischen gemeinschaftsgeist förderten. Vorbilder holte sich die wiener stadtverwaltung in den wohnhöfen der barockzeit und des ausgehenden kaiserreichs.

Diese vergleichsweise kleinen bauten wurden für den massenwohnungsbau umfunktioniert. Als 1923 der erste sozialistische bürgermeister Reumann in den ruhestand ging, fand das team Karl Seitz, Hugo Breitner, Robert Danneberg, Julius Tandler das nötige instrumentarium vor, um nun planmäßig mit der errichtung der wiener wohnhöfe zu beginnen.

Die stadt engagierte keine ausländischen architekten. Für die von 1918 bis 1934 entstandenen 379 großbauten arbeiteten 190 entwerfer — einschließlieh der beamteten architekten. Dadurch wurde ein großer teil der in Wien ansässigen architekten zu den arbeiten herangezogen.

Neue wohnformenneue lebensformen

„Trotzdem vermitteln die gemeindebauten den eindruck der geschlossenheit und einheitlichkeit. Sie strahlen das pathos einer kämpferischen und solidarischen bewegung aus. Auch anderswo in Europa kannte man kommunale wohnbautätigkeit, nirgends aber findet man die stärke des symbolischen ausdrucks wie in Wien“, schrieb ein österreichischer bewunderer über dieses städtebaukonzept.

Angesichts der großen wohnungsnot waren die wohnungen im anfang klein. Man begann mit 30 qm. Das war solidarisch gegenüber den noch wohnungslosen gedacht und wurde von allen akzeptiert. Schon 1924 wird aber in einem amtlichen vermerk von einer wohnungsgröße von 50 qm ausgegangen. Davon entfallen auf das zimmer 20 qm, auf die wohnküche 20 qm, auf abort- und vorraum 10 qm.

Auf die wohnküche wird von der bauleitung kein besonderer wert gelegt. Sie kann auf eine kochnische und wohnkammer verteilt werden. Daraus ist zu ersehen, daß die stadt erzieherisch auf die wohnweise einzuwirken versuchte.

Das hat sie in bezug auf die innenausstattung zum beispiel mit musterwohnungen getan. Vor allem aber sind die wohnhöfe mit wasch- und badehäusern, kindergärten, gesundheits beratungsstellen, lese-und bibliotheksräumen, hobbyräumen usw. ausgestattet. Diese gemeinschaftsräume muß man dem verhältnismäßig geringen wohnraum zuschlagen, denn sie ermöglichten erwachsenen wie kindern, besondere arbeiten, spiel, sport, bildung usw. zu betreiben, ohne dabei die familie zu stören oder — wie bei der wäsche — den wohnraum zu ruinieren.

Daß hier trotzdem nicht alle blütenträume reiften, liegt an den damaligen ungünstigen umständen. So kamen zum beispiel einrichtungen wie großküchen, die die frauen von der hausarbeit hätten entlasten können, aus finanziellen gründen nicht zustande.

In den großen wohnhöfen — Karl-Marx-Hof, Engels-Hof, Rabenhof beherbergten je bis zu 5000 menschen — hatte die basis der arbeiterbewegung ihre natürlichen stützpunkte. Sie waren kristallisationskerne des Roten Wiens, und so nimmt es nicht wunder, daß 1934 hier aufstände gegen die faschisierung der republik ausbrachen; ohne erfolg, weil keine koordinierung stattfand.

Falsch ist es jedoch zu sagen, daß die wohnhöfe schon als festungen geplant waren. Trotz baulicher geschlossenheit und größe waren sie nicht geeignet dafür, was ihr baldiges ende als bürgerkriegs basen ja beweist. Sie waren ein friedenswerk und haben sich als solches erhalten.

Weder der klerikalfaschismus noch der nazismus vermochten das werk auszulöschen, obwohl ersterer nach dem bürgerkrieg des februars 1934 die tragenden organisationen: die SPÖ, die gewerkschaften, die genossenschaften, die kinder-, jugend-, sportvereine usw., ausrottete.

Heute ist das vorbild wieder wirksam

Nach 1945 ging die stadt Wien andere wege. Es wurden keine neuen wohnhöfe gebaut. Wie überall auf der welt entstanden riesige wohnblocksiedlungen, die allerdings nicht mehr die politische aussagekraft errangen wie das Rote Wien der zwanziger jahre. In den siebziger jahren ist man nun wieder zum bau von höfen übergegangen.

Diese hier skizzierte entwicklung ist gegenstand einer wanderausstellung der stadt Wien, die von Köln nach Frankfurt und Berlin gehen wird, um dann auch in Wien gezeigt zu werden.

Quelle: IG Metall-Monatszeitschrift Der Gewerkschafter, Februar 1978.

Autorin: Über Anne-Marie Fabian (1920–1993), die Frau des bekannteren Widerstandskämpfers und Sozialisten Walter Fabian, informiert ein Artikel in Wikipedia.

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