“Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.”

Hat Willy Brandt das nach der “Mauer”-Öffnung am 9. November 1989 gesagt?

Günter Platzdasch
3 min readDec 9, 2020
Flugblatt 1989, Herausgeber: SPD-Parteivorstand.

Zuerst erschienen in dem von Kurt Pätzold und Manfred Weißbecker herausgegebenen Buch “Kleines Lexikon historischer Schlagwörter”, Leipzig (Militzke Verlag) 2005, S. 168/169.

Mit diesen Worten, so die Legende, kommentierte der ehemalige Bundeskanzler und SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt am Abend des 10. November 1989 in einer Rede vor dem Schöneberger Rathaus, in dem er einst als Regierender Bürgermeister residiert hatte, die in der Nacht zuvor erfolgte Öffnung der DDR-Grenze.

„Das deutsche Elend begann mit dem terroristischen Nazi-Regime und dem von ihm entfesselten Krieg… Aus dem Krieg und aus der Veruneinigung der Siegermächte erwuchs die Spaltung Europas, Deutschlands und Berlins“, las man 1990 in einem Sammelband mit Brandt-Reden unmittelbar vor dem berühmten Satz. Auf dem Weg von seinem Wohnort Unkel am Rhein nach Berlin hatte Brandt seine Rede entworfen, die jenen Satz im Manuskript jedoch nicht enthielt; auch in ersten Druckfassungen fehlt er. Tatsächlich hat er ihn dort auch gar nicht gesagt. Er sagte den Satz bzw. ähnlich Formuliertes jedoch am 10. November 1989 anderswo mehrfach (u.a. am Berliner Grenzübergang Invalidenstraße, wo er erklärte, es gäbe „eine Aufforderung an uns alle, nun noch ’ne Menge zusätzlich zu tun, damit das wieder zusammengefügt wird, was zusammengehört”). Brandt schlug später vor, für die Veröffentlichung seiner Rathausrede vom 10. November in einem Buch, dessen Titel „…was zusammengehört“ bereits feststand, den Satz „Es wächst zusammen, was zusammengehört“ nachträglich einzufügen — in der gedruckten Fassung wurde aus „Es“ dann „Jetzt“.

Das Zusammenwachsen sahen in Brandts eigener Partei nicht alle so: Auf derselben Kundgebung sprach Walter Momper, sein Parteigenosse und Nachfolger auf dem Platz des Regierenden Bürgermeisters, nicht von den Deutschen, sondern vom „Volk der DDR“, und in Frankfurt am Main bekannte die sozialdemokratische Kulturdezernentin Linda Reisch gar, ihr stünde die Partnerstadt Mailand näher als Leipzig.

Am 27. Januar 1990 fuhr Brandt nach Gotha zum Wiedergründungs-Parteitag der SPD Thüringen und sprach im Tivoli, dem Gebäude des sozialdemokratischen Vereinigungsparteitags von 1875. Abends fand eine Kundgebung auf dem Hauptmarkt statt, die unter das Motto gestellt war: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“. Brandt stellte dort fest, die Einheit sei schon Realität — nun komme es darauf an, die „Worthülse von der Vertragsgemeinschaft mit Inhalt“ zu füllen. Er schloß mit den Worten des USA-Präsidenten Abraham Lincoln, daß ein in sich gespaltenes Haus, keinen Bestand haben könne.

Im März desselben Jahres besucht Brandt Erfurt und ergänzte sein Bild um die Mahnung: Der Zug zur deutschen Einheit rolle, nun müsse man aufpassen, daß dabei niemand unter die Räder komme. Mancher, dem das geschah, erinnerte sich später dieser Worte, und viele hätten sich gewünscht, daß wenigstens die Fairneß im Umgang mit dem früheren Gegner, die am Ende des amerikanischen Bürgerkriegs herrschte, auch am Ende der deutschen Spaltung dem DDR-Personal zuteil geworden wäre.

Mit den Worten Brandts wurde später versucht, andere Ereignisse hervorzuheben. So sprach Bundeskanzler Gerhard Schröder zum Abschluß des EU-Gipfels am 13. Dezember 2002 in Kopenhagen von einem „historischen Tag” für Europa; nach der Einigung Europas erst im Westen, dann im Süden und Norden seien jetzt der Osten und Südosten dazugekommen: „Hier ist zusammen gewachsen, was historisch zusammen gehört”. Mecklenburg-Vorpommerns Arbeits- und Bauminister Helmut Holter (PDS) riskierte anläßlich dieser EU-Erweiterung Anfang Mai 2004 auf einer gemeinsamen Sitzung des Landkreistags Ostvorpommern und des Stadtrats des bis 1945 deutschen Swinemünde, jetzt polnischen Świnoujście gar den Ausspruch, jetzt werde zusammengeführt, was zusammengehöre.

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