Der schwarze Mann von Eisenberg

Von Rudolf Hirsch

6 min readAug 29, 2021

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Rudolf Hirsch, geboren am 17. November 1907 in Krefeld, gestorben am 7. Juni 1998 in Berlin, war ein kommunistischer deutsch-jüdischer Schriftsteller und Journalist (autobiographischer Roman: “Patria Israel”, Greifenverlag Rudolstadt 1983). Er hat zahlreiche Beiträge für die DDR-Zeitschrift “Das Magazin” geschrieben, von denen ich einige — mit freundlicher Erlaubnis des Rechteinhabers Rainer Rupp — in loser Folge veröffentlichen werde.

Stadtwappen

Zuerst ein Artikel Rudolf Hirschs aus dem Jahr 1960 über die Stadt Eisenberg in Ostthüringen, deren Stadtwappen ein Mohr ziert.

In der alten Republik Venedig trat immer; sobald ein Kriminalgericht über einen Sünder den Urteilsspruch zu fällen hatte, eine vermummte Gestalt auf und rief den Richtern zu: „Gedenket des Bäckergesellen!“ Das Hohe Gericht sollte daran erinnert werden, daß einmal in Venedig ein Bäckergeselle zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, dessen Unschuld sich später — also zu spät — herausstellte.

In der deutschen feudalen und bürgerlichen Justiz fehlt es wahrlich nicht an Justizmorden; nie aber ist ein beamteter Justizwachtmeister vermummt und bestimmt worden, die entscheidenden Landgerichtsdirektoren und Senatsgerichtspräsidenten zu warnen. An einer stillen Stelle, in dem kleinen thüringischen Städtchen Eisenberg, steht ein fast vergessenes Denkmal eines Mohren. über dieses Denkmal gibt es in alten thüringischen Schullesebüchern eine erbauliche Geschichte.

Vor vielen hundert Jahren, als noch die Grafen von Eisenberg im alten Schloß hausten, hatte sich einer dieser Grafen von einem Kreuzzug ins Heilige Land einen Mohren als Diener mitgebracht. Wegen ihrer Treue waren die Mohren hochgeschätzt. Lange Zeit hatte der Schwarze dem Grafen gedient. Als eines Tages die Gräfin ihre kostbare goldene Kette vermißte und sie trotz allen Suchens nicht wiederfinden konnte, fiel der Verdacht auf den Mohren. Weil er der Mohr war.

Auf der Stelle wurde er verhört, gefangengenommen und, obwohl er unter Tränen seine Unschuld beteuerte, zum Tode verurteilt. Die Vollziehung des Urteils wurde auf denselben Nachmittag festgesetzt.

Als nun die Stunde der Hinrichtung kam, fand die Gräfin es schlimm für ihr Gemüt. Und wie es sich für so feine Leute schickt, zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück, um zu beten. Sie schlug das Gebetbuch auf, und siehe da, die Kette fiel heraus. Eine Angehörige aus der übel beleumdeten Familie der Elstern hatte hier ihren Schnabel im Spiel und den Schmuck verschleppt.

Es war noch nicht zu spät gewesen — so steht es im Lesebuch — eben war dem Mohren das Tuch zum letzten Streich umgebunden worden, eben war er niedergekniet, da war der Bote gekommen und hatte über die in tiefem Schauer schweigende Menge sein mächtiges Halt gerufen. Und es ist überliefert, daß der Graf den Kopf des Mohren mit der Binde über den Augen in sein Wappen aufgenommen hat, um dem unschuldig Verurteilten Genugtuung zu geben. Und so soll der Mohr in das Siegel des Rats und in das Wappen der Stadt übernommen worden sein.

Der Mohrenbrunnen in Eisenberg

An dieser Stelle aber muß auch der gewissenhafte Chronist „Halt“ rufen. Wenn eine Elster eine Kette stiehlt, trägt sie das Glänzende in ihr Nest. Oder sah es bei der Gräfin im Schlafzimmer so trübe aus, daß Elstern ungestört im Gebetbuch nisten konnten? Wie immer es auch gewesen sein mag, so ist es nicht gewesen. In keiner alten Chronik der Stadt Eisenberg wird die Geschichte vom geretteten Mohr erwähnt. Und der Mohr als Stadtwappen taucht zum erstenmal um das Jahr 1560 auf, also ungefähr dreihundert Jahre nachdem sagenhafter Graf auf einem Kreuzzug im Heiligen Land gewesen sein kann. Der schöne Marktbrunnen stammt aus dem Jahre 1758. Warum er in Eisenberg aufgestellt wurde, steht in keiner Chronik.

Auch nicht bei Herrn Rector M. Joh. David Geschwend, der alle, alle Nebensächlichkeiten in seiner Eisenbergsehen Stadt-und Land-Chronica der fürstlich sächsischen Residenzstadt Eisenberg erwähnt. Er weiß über die Errichtung des Brunnens nichts zu vermelden. Vom Mohr im Stadtwappen erzählt er eine andere Deutung: „Ein Graf Johannes von Eisenberg befand sich am Heerzug des Kaisers wider die Hunnen, welche bei Merseburg anno 933 geschlagen wurden. Wegen seiner Tapferkeit und Standhaftigkeit, wie denn die schwarze Farbe ein Merkmal davon ist, mag wahrscheinlich der zerstümmelte Mohr auf das gräfliche Wappen gekommen sein.“

Nein, Herr Rector Geschwend. Ihre Deutung stimmt nicht. Der Mohr war damals nicht im gräflich Eisenbergschen Wappen. Dr. W. Engel, ehemals Leiter des thüringischen Staatsarchivs Altenburg, ist in der Nachforschung gründlicher gewesen.

Der hat Hohlmünzen nachgewiesen, aus vielen thüringischen Städten, aus Eisenach, Gotha, Langensalza, in die der Kopf eines bärtigen Mannes mit einem spitzen Hut geprägt ist. Es gibt auch einige Münzen aus der Zeit um 1300 mit der Unterschrift „Ysen“, hindeutend vielleicht auf die Münzstätte Eisenberg. Aber dieser bärtige Mann ist kein Mohr. Es ist der Kopf eines Juden mit dem damals vorgeschriebenen Judenhut. Dr. Engel berichtet, daß dieser Judenkopf das Helmkleinod des Markgrafen von Meißen war. Damals gehörte auch das Gebiet um Eisenberg zur Markgrafschaft Meißen. Im ganzen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation waren die Juden „Kammerknechte des Kaisers“; ihm allein stand der sehr fragwürdige Schutz und vor allem die nicht fragwürdige Besteuerung der Juden zu. Kaiser Ludwig der Bayer hatte dem Markgrafen Friedrich dem Strengen von Meißen „Schutz“ und Zins der Juden in den meißnischen Erblanden übertragen. Damals waren die Markgrafen noch stolz auf dieses Steuerprivileg und scheuten sich nicht, den Judenkopf in ihr Wappen aufzunehmen. Später wurde der Bart auf dem Wappen immer kürzer und die Spitze des Hutes immer gekrümmter. Es war nicht mehr vornehm, einen Juden statt eines Adlers im Wappen zu führen. Der spitze Hut wurde zur krummgezogenen Mütze und verwandelte sich schließlich in eine Kopfbinde.

Als in der Zeit um 1554 das Stadt- und Landgebiet Eisenberg von Sachsen nach Thüringen überging, übernahm die Stadt den zu einem Mohren umgewandelten Judenkopf in ihr Wappen und in ihr Siegel auf. Und so blieb es.

Und so blieb es bis zum Jahre 1937. Wohl hatten die Nazis kaum Kenntnis vorn Ursprung des Eisenberger Wappens. Aber auch ein nichtarischer Mohr war damals fehl in einem deutschen Stadtsiegel. Er wurde wegarisiert.

Der Mohr am Marktplatz aber hat die Zeiten überdauert. Dort steht er noch heute. Nicht als Zeichen der Tapferkeit, nicht als Zeichen fürstlichen Gerechtigkeitssinns.

Als ich einen Jungen von zwölf Jahren in Eisenberg fragte, was es denn mit dem Mohren auf sich habe, erzählte er mir die alte Geschichte, jedoch ein wenig verändert. Der Kleine behauptete, der Schmuck sei in Wirklichkeit von dem Dolmetscher gestohlen worden. Er kenne nur Mohren, die als geachtete Gäste unserer Republik ihre Stadt Eisenberg besuchen. Der kleine Junge war tief von der Gleichheit all derer, die Menschenantlitz tragen, überzeugt. Und deshalb erzählte er die alte Legende in einer ihm gemäßen Form. Sein Weltbild ist geformt durch unsere Erziehung, frei von Haß gegen andere Völker und andere Rassen. Ein so gebildeter Geist wird nie die Hand veranlassen, Hakenkreuze zu schmieren. „Gedenket des Bäckergesellen“, gedenket aber auch des Mohren von Eisenberg, ihr Herren drüben in Westdeutschland mit der unbewältigten Vergangenheit, die ihr euch anmaßt, mit blutbesudelten Händen Recht zu sprechen.

Zuerst in: DAS MAGAZIN 7. Jahrgang, Heft 7 — Juli 1960, S. 33/34.

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