edition suhrkamp 249 (Frankfurt am Main 1968)

Adornos „Versöhnung“ mit Ernst Bloch

Zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno

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Unter dem Titel “Aus der Geschichte der Internationalen Hegel-Gesellschaft” erschien 1972 in der 2. Auflage der erstmals 1967 von Manfred Buhr, Joseph E. Drexel und Werner Jakusch herausgegebenen Bibliographie “Wilhelm Raimund Beyer” dessen Bericht über das erste Zusammentreffen von Theodor Adorno und Ernst Bloch nach der Emigration. — Mit Beyer war ich bis zu dessen Tod befreundet; ich glaube, es hätte ihm gefallen, daß diese Episode aus längst vergriffenem Buch, erschienen in nicht mehr bestehendem Verlag, der Nachwelt erhalten bleibt.

Erweiterte Auflage — mit einem Anhang:

Wilhelm Raimund Beyer: Aus der Geschichte der Internationalen Hegel-Gesellschaft

Die wahre Geschichte spielt in den Jahren 1957 und 1958. Da residierte Ernst Bloch noch in Leipzig. Bis etwa 1956 war er als angeblicher „Chefideologe“ des Kommunismus (was er natürlich nie war) vom „Westen“ angeprangert, beschimpft und restlos abgelehnt worden. Es war dies aber auch die Zeit, da Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in Frankfurt am Main noch am Ruhm ihrer siegreichen Heimkehr zehrten und sich anschickten, via moderner Publikationsmittel ihr „geistiges Reich“ aufzubauen.

Im Frühjahr 1957 hatte ich einmal in München im Hotel Bayerischer Hof bei einer wissenschaftlichen Tagung Max Horkheimer gefragt, wie es denn wäre, wenn die Internationale-Hegel:Gesellschaft ihren nächsten Kongreß in Frankfurt am Main abhalten ‘würde. Denn: wir wollten zunächst an Stätten tagen, die einen örtlichen Bezug zu Hegel neben den philosophie-thematischen Anknüpfungspunkten aufweisen konnten. Beides treffe auf Frankfurt am Main zu; Hegel-Kritik sei beim Institut für Sozialforschung gang und gäbe. Es wäre dazu sehr schön, wenn er — Horkheimer — den grundlegenden, richtungweisenden Einleitungsvortrag übernehmen würde. Horkheimer war bald damit einverstanden. Er behielt sich nur vor, falls er selbst den Hauptvortrag nicht übernehmen könne, diesen auf seinen Freund Theodor W. Adorno delegieren zu dürfen, denn — wie er sofort mehrfach auf einer Autofahrt, zu der ich ihn einmal nach Nürnberg zur Lessing-Gesellschaft mitnahm, erneut betonte — „denn unsere-Philosophie ist eine; was der eine sagt, gilt für den anderen“. Auch damit war ich einverstanden.

Es begannen die Vorbereitungen. Mehrfach war ich zu diesem Zwecke in Frankfurt am Main. Einmal, bei Horkheimer in der Universität, wurde dieser durch einen Telefonanruf abgelenkt. Ich merkte, wie verlegen er deshalb wurde. So machte ich eine Handbewegung, um anzudeuten, daß ich mich während des Gespräches ja entfernen könne. Er winkte ab, wies auf den Stuhl, auf dem ich deshalb wieder Platz nahm. Dieses Telefongespräch war sehr lang. Es muß den Anrufer viel Geld gekostet haben (so er es nicht auf „Staatskosten“ führte). Ich bekam bald heraus, daß es um die Internationale Hegel-GeseIlschaft dabei ging und um den geplanten Frankfurter Kongreß. Horkheimer redete herum. Anscheinend war ihm die Frage gestellt worden, ob er denn wirklich dabei sprechen wolle. Ich hörte seine Antwort, daß die Universität nun einmal die Räume zugesagt habe und daß daran nichts mehr zu ändern sei. So gegen Schluß des Telefonats ließ Horkheimer aber durchblicken, daß „er dann wohl nicht sprechen werde“. Dieses „dann“ blieb mir klanglich im Ohr, obwohl ich mit dem Satz zunächst nicht allzuviel anzufangen wußte. Ich dachte höchstens, es könne darum gehen, ob Horkheimer neben — und sei es zeitlich vor — einem Philosophen aus der DDR sprechen werde, da damals eine böse Hetze gegen jede Institution, die einen Redner aus der DDR sprechen ließ, allenthalben in der BRD getrieben wurde.

Als das Gespräch beendet war, atmete Horkheimer sichtlich erleichtert auf und sagte in etwa: Sie haben ja gehört, ich weiß noch nicht, ob ich referieren werde, dann kommt eben Adorno und spricht. Meine Antwort war rasch zur Hand: Wir würden es sehr bedauern, wenn er nicht selbst sprechen würde, aber — bei der betonten thematischen und philosophischen Identität zwischen ihm und Adorno sei dies mehr eine persönliche Sache. Erstaunt fragte da Horkheimer: „Haben Sie nicht gemerkt, wer das war?“ und „Wissen Sie nicht, wer telefoniert hat?“ — und auf mein Achselzucken: „Es war Gadamer.“

Ich sagte nichts als „ach ja“ oder sonst ein Wort vollkommen neutraler Relevanz. Offengestanden: ich wußte damals nicht, wer Gadamer war. Woher sollte ich denn das auch wissen und seinen Namen kennen? Es lagen zu jener Zeit kaum Veröffentlichungen von ihm vor. Und ferner: für die Jahre 1934–1946 hatte ich eben „Informationslücken“, deren ich mich — geschichtlich betrachtet — kaum zu schämen brauche. Erst später, in 2–3 Jahren, vor allem durch Erich Heintel, erfuhr ich, „wer“ eigentlich Gadamer sei, und daß er sowohl aus gekränkter persönlicher Eitelkeit wie auch aus reaktionären politischen Ambitionen eine Gegengründung gegen die aufgeschlossene Internationale Hegel-Gesellschaft, deren Gründer als Vertreter des dialektischen Materialismus bekannt sei und „deren sämtliche Vorstandsmitglieder keinen Lehrstuhl inne hätten“, plane bzw. durchführe.

Gut: Horkheimer hielt sein Wort. Gadamer gegenüber, indem er bei der Internationalen Hegel-Gesellschaft absagte, sowohl als Referent wie auch als Kongreßteilnehmer. Mir gegenüber, indem er dafür sorgte, daß Adorno für ihn eintrat.

Es war daher nunmehr mit Theodor W. Adorno zu verhandeln, was auch geschah. Bei all diesen Vorbesprechungen hatte Adorno nie eine Silbe davon gesagt oder danach gefragt, ob zu dem Kongreß auch Ernst Bloch kommen werde. Adorno hat dies zwar später einmal kurz behauptet, es konnte aber leicht nachgewiesen werden, daß er eine Frage Horkheimers, die ihm dieser möglicherweise mitgeteilt hatte, nicht richtig einplazierte. Tatsächlich hatte mich Horkheimer während der oben erwähnten Autofahrt von München nach Nürnberg gefragt, wer mitarbeite und wahrscheinlich zum Kongreß kommen werde. Es waren ihm Namen genannt worden. Er fragte dann weiter, ob Philosophen aus der DDR kommen würden und wer. Ich nannte diejenigen Kollegen, die auf dem Nürnberger Hegel-Kongreß aus der DDR anwesend gewesen waren. Ich sagte, daß ich mit sechs oder acht Kollegen aus der DDR rechne. Horkheimer fragte ganz nebenher, ob Ernst Bloch dabei sei. Ich antwortete wahrheitsgemäß, daß mir nichts davon bekannt sei, ob er kommen werde. Er sei auch nicht zu einem Referat aufgefordert. Mit dieser Antwort gab sich Horkheimer sofort zufrieden. Er berührte dieses Thema nie mehr. Die Frage war so beiläufig und kurz eingeflochten, daß ich ihr auch keine Bedeutung zumaß. Es kam mir höchstens der Gedanke, daß Ernst Bloch möglicherweise aus politischen Gründen unangenehm sein könnte, denn damals war sein Buch „Subjekt — Objekt“ im ganzen „Westen“ noch verhaßt. Kein Student durfte es in der BRD zitieren, wenn er sein Examen bestehen wollte. Es war eine umgekehrte Situation als in der Gegenwart.

Wilhelm R. Beyer (2. v. li.) mit den Bibliographie-Herausgebern Jakusch, Drexel und Buhr (v.l.n.r.)

Etwa 10 Tage vor dem Kongreß bekam ich unerwartet ein Telegramm von Ernst Bloch, daß er gerne am Hegel-Kongreß in Frankfurt am Main teilnehmen wolle. Er erbat eine schriftliche Einladung und Hotelbestellung. Ich war etwas überrascht, denn ich hatte vorher Ernst Bloch nur ein einziges Mal ganz kurz persönlich gesprochen und ihn ja auch erst 1956 kennengelernt. Das war auf einer philosophischen Hegel-Tagung in Berlin in der Humboldt-Universität gewesen. Hans Heinz Holz hatte die Bekanntschaft vermittelt. Dieser hatte mich nach einem Vortrag von Ernst Bloch geradezu überredet („Bloch will doch unbedingt mit dir persönlich sprechen, ihr habt euch ja schon Briefe geschrieben; Bloch möchte mit dir sprechen, du kannst das nicht ausschlagen“ usw.), am Abend zu einem Treffen mit Ernst Bloch in den Presseclub in der Friedrichstraße mitzukommen. Ich hatte mich für diesen Abend allerdings schon mit alten Genossen verabredet und war ungehalten, daß ich dies nun nicht oder nur verkürzt einhalten konnte. Ich ließ gegenüber Hans Heinz Holz meine Zusage daher offen. Als ich nach Beendigung der Veranstaltung die große Freitreppe in der Humboldt-Universität herunterging, um mich sofort unbemerkt zu verkrümeln, kam ein junger Mann auf mich zu, stellte sich als Jean Bloch, Sohn von Ernst Bloch, vor und bat mich, mit in sein Auto zu kommen, sein Vater warte schon im Presseklub.

Hier lernte ich nun in Anwesenheit von Hans Heinz Holz, dessen Freundschaft mit Ernst Bloch mir ja bekannt war, diesen und seine Frau kennen. Ich hatte Bloch in meinem Buche „Zwischen Phänomenologie und Logik“ zerzaust, weil er das für die marxistisch-leninistische Hegel-Deutung so wichtige Zitat aus der Bamberger Zeit, von Hegel im Hinblick auf die Erlangung einer Nürnberger Gymnasialstelle und sein privates Überwechseln von der Theorie zur Praxis geschrieben: „Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus“, in seinem Buche „Subjekt — Objekt. Erläuterungen zu Hegel“ ohne irgendwelchen sachlichen oder thematischen Grund auf Napoleon bezogen hatte. Bloch meinte deshalb, ich hätte ihm „Süß-Saures“ gegeben und lachte dabei.

Kurz nach dieser Einleitung kam plötzlich, für mich unerwartet und nicht vereinbart, Wolfgang Harich mit einer sehr fesch gekleideten jungen Dame und setzte sich nach Begrüßungsworten so an den Tisch als wenn er Mittelpunkt und Anlaß des Zusammentreffens sei. Und — da ich sowieso nichts zu sagen hatte und auch nicht wußte, was nun zu sagen sei, mich nicht in fremden Gesprächsstoff hineinzubringen gewohnt bin, schwieg ich zunächst und verabschiedete mich bereits nach 5 Minuten Anwesenheit. Ich schützte die andere Zusage, zu der ich nun auch tatsächlich hinging, hierfür vor. Nach Auskunft von Holz soll Madame Bloch nach meinem Fortgang gesagt haben, da haben wir ,,fehl. arrangiert; daß Beyer Harich nicht ausstehen kann, wußten wir nicht“.

Also: ich hatte nicht den geringsten Grund, Ernst Bloch irgendwie nach Frankfurt am Main zu bringen, ihn herauszustellen oder ihm sonstwie und wann behilflich zu sein. Solange er in Leipzig als „Papst“ residiert hatte, war er nie auf den Gedanken gekommen, mit mir Fühlung aufzunehmen.

Doch, kehren wir nach Frankfurt am Main, August 1958, zurück. Als ich zum Internationalen Hegel-Kongreß dorthin gekommen war, ich wohnte bescheiden im „Württemberger Hof“, lagen zahlreiche und dringende Telefonanrufe für mich vor. Vor allem mehrere von Adorno. Ich sollte sofort nach Eintreffen ihn anrufen. Ferner hatten sich Holz und Bloch fernmündlich gemeldet. Holz war damals in der Vorstandschaft der Internationalen Hegel-Gesellschaft; er hatte sich als in Frankfurt am Main Ortskundiger und Ortsanwesender um mehrere organisatorische Fragen mit Erfolg bemüht.

Bloch sagte am Fernsprecher nur „Guten Tag“, beschwerte sich über das ihm reservierte, aber zu teuere Hotel und fragte nach Beginn der Sitzung. Sofort war er mit den entsprechenden Auskünften versorgt.

Adorno dagegen war beim Rückruf erregt. Scharf erklärte er: es „sei alles in Schwebe“ und wir müßten sofort, allereiligst und dringendst zusammen sprechen. Es sei sehr wichtig. Er bestehe unbedingt auf Aussprache, denn es sei fraglich, ob der Kongreß überhaupt stattfinden könne, zum mindesten sei seine Mitwirkung infrage gestellt. Es wurde für nächsten Vormittag in aller Frühe eine Zusammenkunft im Institut für Sozialforschung ausgemacht.

Beyer an Hegels Grab

Es war nun sehr spät geworden. Und — am nächsten Tag sollte der Kongreß beginnen. An Schwierigkeiten und Komplikationen war ich gewohnt. Sie wurden immer irgendwie gemeistert, aber — nur dann, wenn ihr Inhalt, ihr Zusammenhang und die zugrunde liegenden Realitäten klar analysiert worden waren. Hier aber — war alles offen. Was eigentlich los war, wußte ich nicht. Auch Holz, der abends noch ins Hotel kam, konnte sich keinen Vers auf diese-Wandlung Adornos machen. Er wußte — von keinen Schwierigkeiten. Im Gegenteil: das Interesse am Kongreß sei ungemein gewachsen. Er fragte, ob man etwa Adorno irgendwie Abtrag getan habe? Er meinte, Theodor W. Adorno sei etwas eitel, vielleicht liege eine Verschnupfung vor, die man doch wohl beheben könne. Vielleicht handele es sich auch nur um protokollarische Fragen, die ebenfalls geregelt werden könnten. Und: letzten Endes vermuteten wir alle, daß wieder einmal politische Quertreibereien von irgendwelchen Dunkelmännern der BRD am Werke seien, da diese Ignoranten einfach die Teilnahme von Philosophen aus der DDR (diese trafen denn auch noch am Abend ein und meldeten sich sofort) nicht vertragen können und zu Sabotage-Maßnahmen widerlichsten Stils im Auftrage ihrer Geldgeber jederzeit greifen. Die „Kalten Krieger“ tobten sich damals ja besonders in der Philosophie und der philosophischen Journalistik aus. Daß die Internationale Hegel-Gesellschaft die Philosophen aus der DDR gleichrangig und gleichwertig im internationalen Maßstab als aktive Teilnehmer seit ihrer Gründung zuließ, hatte der Internationalen Hegel-Gesellschaft dummdreiste Bemerkungen vom „Spiegel“ und vor allem auf niedersterm, philosophie-verleugnendem „Niveau“ durch einen gerade in Frankfurt am Main publizieren Journalisten Bitzer eingebracht. Warum sollten diese Kreise nicht das Ohr Adornos geneigt gefunden haben? Der Adenauer-Clique war alles zuzutrauen.

Ich hatte im Wagen den emeritierten Professor der Frankfurter Universität, den Urenkel Hegels, Herman Lommel aus Prien, mitgenommen. Er wohnte im Gästehaus der Universität. Überlegt, vornehm, angesehen und doch im politischen Leben aufgeschlossen wie er war, hatte er bereits bei der Gründung der Gesellschaft in Hegels Schulzimmer im Nürnberger Gymnasium mitgewirkt und war Ehrenpräsident der Gesellschaft geworden. Deshalb bat ich ihn — nachdem ich mir das Einverständnis Adornos im Wege eines zusätzlichen Sonderanrufs noch eingeholt hatte — an der für früh 7 Uhr im Sozialforschungsinstitut angesetzten Besprechung mit teilzunehmen. Adorno hatte aber, zunächst von dem Vorschlag angetan, sofort gebremst: „Mehr Personen dürfen keinesfalls zugegen sein.“

Um 10.15 Uhr sollte der Kongreß im Plenarsaal der Universität beginnen. Sehr viele Teilnehmer waren zu erwarten. Ich bat Holz, dort in der Universität rechtzeitig anwesend zu sein, da ich erst im letzten Augenblick eintreffen werde, weil eine Besprechung vorher bei Adorno stattfinden müsse, die wohl erhebliche Zeit dauern werde.

Es war schwer, Herman Lommel herbeizuholen. Zu so früher Zeit war das Gästehaus noch versperrt, d.h. das Gittertor außen auf der Straße. Durch Hupenzeichen brachte ich Lommel ans Fenster. Er kam herunter, konnte aber nicht heraus. Ich mußte ihm helfen und von außen auf das Gitter klettern, damit dann der alte Mann, unterstützt durch mich, das schmiedeeiserne Gitter bewältigen konnte. Alles wegen Adorno! Im letzten Moment gelang der „Überstieg“. Mit nur ein bis zwei Minuten Verspätung trafen wir in der Senckenberg-Allee ein.

Da war Adorno. Aufgeregt, Mißmut dokumentierend, ging er im verhältnismäßig kleinen Direktorzimmer des Instituts herum, den Spitzbauch vorschiebend, Zorn im Gesicht und doch eine gewisse Unsicherheit nicht verbergend. Sein Lieblingswort „emphatisch“ reflektierte er selbst.

Guten Tag sagen und Beginn des Gespräches war eines. Zunächst wurden wir beide vergattert. Das, was wir nun hören werden, dürfen wir bei seinen Lebzeiten nicht weiter erzählen oder verlautbaren. Erstaunt und erleichtert (denn ich dachte immer noch an Verfassungsschutz-Camouflagen oder ähnliches) war ich zum „Schwur“ bereit; wir sicherten beide die erwartete Verschwiegenheit zu. Also: kurz und gut, stieß er heraus, „ich spreche auf dem Kongreß nicht, weil Ernst Bloch da ist“. Daß dieser kommen wolle, hätte ich ihm verschwiegen. Ich sagte, daß ich ja auch nie von ihm danach gefragt worden wäre. Das gab er zu. Außerdem erinnerte ich an die Identitätszusage Horkheimers, so daß es genügte, diesem auf Anfrage die damals richtige Antwort gegeben zu haben. Und im übrigen sei es doch mehrfach und gerade, um Komplikationen von vornherein auszuschalten, von mir betont vermerkt worden, daß Philosophen aus der DDR und vor allem Vertreter des Marxismus aus den verschiedenen Ländern kommen werden. Adorno, der damals zahlendes Mitglied der Internationalen Hegel-Gesellschaft war, mußte also über Struktur wie Funktion der Gesellschaft genau unterrichtet gewesen sein. Ferner: das Programm und die allgemein und öffentlich verbreitete Rednerliste wiesen ebenfalls die Teilnahme von Philosophen aus der DDR zur Genüge aus.

Von Max Horkheimer herausgegeben in der Europäischen Verlagsanstalt 1963

Da setzten nun der Redestrom, die Erregung und die zornige Hitzigkeit Adornos erst recht ein. Es ginge um Ernst Bloch persönlich. Zur gegenständlichen Frage seien die anderen Philosophen aus der DDR nebensächlich. Es sei eine persönliche Sache, die ihn hindere, mit Bloch zusammenzukommen, ja überhaupt ihn nur anzuschauen oder gar mit ihm zu sprechen. Er könne unmöglich Ernst Bloch mehr die Hand geben. Er wolle ihn nicht sehen. Sein Anblick sei „untragbar“ für ihn. — Wir einfältigen hatten also daneben getippt, als wir politische Haßtiraden erwartet hatten. Es ging um „den Menschen Bloch“ und nicht um dessen vertheoretisierten und veridealisierten „aufrechten Gang“. Und unter fortwährender Bezugnahme auf das Schweigegebot kam dann heraus:

Ernst Bloch hatte sich in der Emigrationszeit mit Adorno verfeindet. Sehr. Ernst Bloch habe eine „lose Zunge“, er habe über Adorno Böses gesagt, das Gerede habe sich sogar unter den Frauen beider aufrechterhalten. Es habe die ganze Emigrantengruppe um die Zeitschrift für Sozialforschung bewegt und erregt. Ich bremste etwas, da ich die Gerüchtebildungen und Geschwätzigkeiten unter den Emigrierten sehr gut (vor allem aus der Bearbeitung der bayerischen Wiedergutmachungsakten) kannte. „Nein“ — hieß es bei Adorno. Das was sich Bloch geleistet habe, habe nichts mehr mit der üblichen Emigrantenzänkerei zu tun, das sei „Brunnenvergiftung“, „Böswilligkeit“ und Herabsetzung seiner Person. Dabei zeigte es sich, daß Adorno sehr empfindlich war, auch Nebendinge auf sich bezog und stets seine Meinung herausstellte.

Und — ohne zu fragen — im Redestrom kam dann heraus: Ernst Bloch habe ihm in der Emigrationszeit vorgeworfen und überall verleumderische herumgeschwätzt, daß er — Adorno — die nachgelassenen Schriften Briefe von Walter Benjamin untreu verwaltet habe. Er habe marxistische Züge und Elemente ausgemerzt, unterdrückt und sogar aus dem Restbestand dann Gedanken für seine eigenen Werke ohne Zitatnennung ausgenutzt. Es liege also bei ihm (Adorno) ein Mißbrauch der Gedanken Benjamins vor. Das aber dürfe er, Adorno, sich nicht gefallen lassen. Das könne auch nie bereinigt werden, eine Entschuldigung Blochs käme nie in Betracht. Er hasse Bloch, er wolle ihn nicht sehen. Wenn er komme, gebe es Krach. Es sei unmöglich, daß wir ihm diesen Mann aufzwängen; er gehe nicht zum Kongreß. Er spreche nicht.

So war es 8 Uhr geworden. Es wurde 9 Uhr. Adorno rannte im Zimmer herum. Grauer Anzug. Bäuchlein nach vorn. Aus den Äuglein nicht wie sonst spitzbübisch, sondern zornig blickend.

Lommel besänftigte. Situation damals — Situation heute.

Ich sagte: unmöglich. Der Saal ist sicherlich voll. Der Name Adornos habe das bewirkt. Er könne uns nicht aufsitzen lassen. Es gäbe ein erneutes „Gerede“. Bloch würde nicht schweigen. Wenn es nun plötzlich heißen würde, Adorno spreche nicht, obwohl jeder weiß, daß er in Frankfurt anwesend sei, würde dies Bloch und vielen anderen erneuten „Stoff“ geben.

Hin und her.

Die Anti-Festschrift (Ost-Berlin 1957) mit Beiträgen der Leipziger Bloch-Konferenz

Lösung: es muß dafür gesorgt werden, daß Ernst Bloch eliminiert wird. Er muß stets umgeben, umringt sein von einer „Leibgarde“, die ihn blockiert. Andererseits wird auch Adorno durch seine Freunde und Schüler umgeben (Haag, Schweppenhäuser, Alfred Schmidt wurden genannt), gewissermaßen als ein Schutzwall. Ferner: sofort nach der Kongreßsitzung gehen die zahlreich anwesenden Urenkel Hegel (es waren sieben mit Familie da) mit den Freunden Adornos zusammen zu einem „Hegel-Gedenk-Essen“ (für dessen Zustandekommen Hermann Lommel sich verpflichtete) in ein benachbartes Restaurant, wobei Adorno beim Verlassen des Saales und auf dem Weg zu diesem philosophischen Hegel-Gedenk-Essen stets umringt und abgeschirmt bleiben werde. Es sei undenkbar, daß da Ernst Bloch sich irgendwie heran machen könne.

Es wurden Einzelheiten besprochen. Ich ging kurz zur Universität hinüber und holte Hans Heinz Holz heraus. Er machte sofort bei dem Plan mit, da er sich ja sowieso um Ernst Bloch und dessen Frau annehmen wollte. Er war nach seinen Angaben einmal bei Ernst Bloch in Leipzig zu Gast gewesen und hatte so gesellschaftliche Pflichten abzutragen. Da Holz garantierte, daß er Bloch nicht alleine lassen werde, ging ich zu Adorno und Lommel zurück und erstattete „Vollzugsmeldung“. Holz war aus Adornos „Beichte“ nur mitgeteilt worden, daß Adorno Bloch nicht zu sprechen wünsche, daß dies aber Bloch nicht zu sagen sei.

Es klappte. Mit großem Aufgebot gingen wir um 10 Uhr ins Auditorium: Adorno wie ein Matador umringt von Getreuen. Bloch saß schon ganz weit hinten, mit Holz und einigen anderen. Wenn ich mich recht entsinne, waren die Schweizer Walter Nelz und Otto Morf bei ihm. Nach der Tagung gingen wir genauso gruppiert fort. Holz lud, wie er später sagte, Bloch mit Frau zum Kaffee ein.

Es klappte am Nachmittag.

Es klappte am zweiten Tag, an dem Adorno nur kurz da war.

Am dritten Tag wurden die Schutzmaßnahmen gelockert. Wie das so geht. Sie hatten sich auch etwas abgeschliffen. Holz. damals noch ein junger Mann mit nicht allzu großer materieller Substanz, stöhnte: „Bloch sprengt bei diesen fortwährenden Essens- und Kaffeehauseinladungen mein Budget“. Er könne nicht so weiter machen. Es war aber — als „rettender Engel“ nach dieser Hinsicht — Frau Eva Maria Schulz aus Tübingen, eine einstige Schülerin Blochs aus seiner „großen“ Zeit in Leipzig, eingetroffen und sorgte gut für die Familie Bloch. Es schien sich alles zu „runden“, wie in der Wiener Posse, auf gute Manier.

Am letzten Tagungstag, vormittags in einer Pause. Es stehen vor dem Sitzungssaal, ich könnte es noch zeichnen: Adorno, umgeben von Wenig, Alfred Schmidt, Beyer, Schulte-Bulmke, Erich Heintel, Döderlein und andere. Plötzlich sah ich — ganz aus der Ferne –, wie aus einer Gesprächsgruppe sich Ernst Bloch absetzt und geradewegs auf uns zukommt. Ich nahm an, er steuere zur Eingangstüre des Vortragssaales. Im letzten Augenblick eine Schwenkung nach rechts und er stand in nächster Nähe. Mit seiner körperlich unübersehbaren Figur drängte er alle beiseite und ging mit ausgestreckter Hand forsch und sicher, im eine gewisse Arroganz repräsentierenden „aufrechten Gang“ und mit „menschlicher Würde“ auf Adorno zu: „Na, Wiesengrund, wie geht’s Dir denn?“ Der Satz klingt mir heute noch voll und tiefgetönt in den Ohren. „Wiesengrund, wie geht’s Dir denn?“ (Beide hatten sich nach der Emigrationszeit bis dahin ja nicht wiedergesehen; Bloch sprach daher auch sicherlich ohne Hintergedanken Adorno bei seinem einstigen Namen an.)

Ich dachte, der Himmel oder zum mindesten die Johann-Wolfgang-Goethe-Universität würde einfallen. Ich wähnte, Teddie Adorno würde sich empört umdrehen, Bloch stehenlassen, mich vorwurfsvoll beiseite ziehen und weggehen oder sonstwas. Nichts dergleichen. Nichts. Kurzes Erstaunen. Und dann — dann ergriff Adorno die ausgestreckte Hand Blochs und sagte: „Und Dir?“

Bloch hatte sofort gemerkt, daß er gewonnen hatte Er nahm den so klein neben ihm wirkenden Teddie Adorno am Arm, führt ihn aus der Gruppe heraus und erzwang so ein Einzelgespräch.

Am nächsten Tage sollen beide gemeinsam irgendwo gespeist haben. Wahrscheinlich hatte Adorno dann auf Bitte Blochs für diesen beim Suhrkamp-Verlag interveniert. Damit schuf er die „materielle“ Grundlage für die Umsiedlungspläne Blochs. Bis zur Stunde war Bloch für Adorno der „Todfeind“, nun erwies er ihm den größten Dienst. Erst gestützt auf diese „ökonomische Basis“ konnte Bloch es wagen, von Leipzig nach Tübingen überzusiedeln.

Es fiel später — soweit ich es verfolgen konnte — kein Wort mehr von Bloch über Adorno Beziehungen zu Walter Benjamin. Ernst Bloch war denn auch auf die Linie einer unmarxistischen Benjamin-Interpretation eingeschwenkt.

Ein Nachwort noch zu Ernst Bloch: Hat er, der polternde Charmeur der gegenwärtigen idealistischen Philosophie, wirklich so unegoistisch gegenüber seinem zeitweiligen „großen“ Freunde Benjamin, dessen Einfallskraft und Diktionsgabe doch wohl ungemein anregend gewesen sein mußten, gehandelt? Ich entsinne mich nur zweier erst später gehörter Vorträge von Ernst Bloch (über Ästhetik). In beiden kam — zum allgemeinen Gaudium der Zuhörer — bei der Explikation des ästhetischen Urteils im Gedankensprung vom object d’art zur Milieu-Einrichtung jugendstilartiger Wohnungen der knallige Satz vor: „…auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden.“ Als 1970 Rolf Tiedemann das Buch „Theodor W.:Adorno: Über Walter Benjamin“ im Suhrkamp-Verlag edierte, vernahmen wir auf Seite 56, daß dieser Knüller — von Walter Benjamin stammt.

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